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Wortbruch Aphorismen
verbum Verlag Berlin 1993 (ISBN 3-928918-06-0)
Jeder Satz wird einzeln abgerechnet
Kopfschüttelnd stehen wir heute zwischen den Trümmern der zerbrochenen Ideologien dieses Jahrhunderts und haben Schwierigkeiten zu begreifen, was Menschen dazu bringen konnte, ihre geistige Unabhängigkeit für geschlossene Denksysteme aufzugeben, die alles in allem doch nicht viel mehr waren als riesige Eseleien. Faszinierend daran waren nicht die Höhen der theoretischen Konstruktion, sondern der Anspruch, mit dem ewige Lösungen aller Menschheitsprobleme verkündet wurden. Hinter dem Wunsch, die Welt bis ins letzte zu definieren, stand unausgesprochen der Wille, das Denken ein für allemal abzuschaffen. Ist die Sprache der Ideologie langatmig, humorlos, dozierend, so teilt sich das freie Denken kurz, klar und originell mit. Es ist geradezu der Qualitätsbeweis eines guten Gedankens, dass er in knappester Form zu überzeugen vermag. Es kommt nicht von ungefähr, in welch platte Parolen sich die hochtrabenden geistigen Großentwürfe verwandelten, wenn sie zum Haus- und Propagandagebrauch in handliche Losungen zusammengedampft wurden.
Das Gegenteil der stumpfsinnigen politischen Losung ist die sprachliche Brillanz des Aphorismus. Einer guten Pointe opfert das freie Denken alle Theorien der Welt. Der Aphorismus steht nur für sich selbst. Jeder Satz wird einzeln abgerechnet. Kein Gedanke will sich hinter einem undurchschaubaren System verbergen. Aphorismen sind schnell. Sie bringen auf einen Nenner, worüber andere seitenlang herumschwadronieren. Sie wehren sich nicht gegen Falsifizierungen, sondern fordern sie direkt heraus. Ein Karton voller Aphorismen ist tausendmal wertvoller, als die mehrbändigen Gesamtausgaben eifernder Scholasten.
Köln, Mai 1993 Johannes Gross
Ein Aphorismus ist die zufällige Bekanntschaft mit der eigenen Meinung.
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Manche leben so vorsichtig, dass sie wie neu sterben.
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Einen Fehler, den man schon lange macht, beherrscht man perfekt.
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Da sie sich nichts mehr zu sagen hatten, sagten sie sich erst einmal richtig die Meinung.
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Ach, da fällt mir schnell noch ein Gedanke ein, der die Welt verändert.
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Wir sind das Salz an der Schokoladensuppe.
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Wenn du schweigst, kannst du alles verschweigen; wenn du redest, nie alles sagen.
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Es ist alles eine Frage der Zeitung.
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Der Mensch ist das Mittelmaß aller Dinge.
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Typisch für unsere Zeit sind mittelmäßige Extremisten und extrem Mittelmäßige.
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Zu einem richtigen Vaterland gehört ein richtiges Niemandsland.
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Bei einem Begräbnis denkt der Archäologe prognostisch.
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Im Glauben an sich selbst sind viele Pietisten.
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Wir sind normalerweise nicht, ausnahmsweise sind wir.
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Die Würde des einen ist die Bürde des anderen.
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Das Hauptanliegen vieler Politiker ist ein Wassergrundstück.
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Die meisten Hunde sind völlig auf den Menschen gekommen.
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Dogmen sind Antworten auf verlorengegangene Fragen.
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Langsam verschwammen seine Gedanken zu einem klaren philosophischen System.
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Fragen ist die große Stärke des Menschen, Antworten die kleine Schwäche.
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In uns erinnert sich die Natur an etwas nie Gewesenes; mit uns entwirft sie etwas, was nie sein wird.
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Am schwersten sind die Fragen zu beantworten, die wir uns deswegen gar nicht erst stellen.
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Oft folgen den kürzesten Täuschungen die längsten Enttäuschungen.
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Wer Wellen sucht, darf nicht untertauchen.
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Kann man Frieden kriegen?
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Die Ruhe ist der Jahrmarkt des Geistes.
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Für die Ungeborenen ist auch die Vergangenheit noch nicht passiert.
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Wer das Volk für dumm verkauft, handelt mit heißer Ware.
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Ich weiß nicht genau, ob ich weiß, dass ich nichts weiß.
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Nimm mich so, wie ich noch nicht bin.
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Ich denke nun schon ein paar Jahre, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen.
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Ehrlich wartet am längsten.
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Die Götter glauben an nichts.
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Nicht alle, die am Ziel ankommen, sind am Start losgelaufen.
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Kann man, wenn man alles sagen kann, auch sagen, dass man nicht alles sagen kann?
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Moskau und Warschau halten große Stücke von Deutschland.
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Die Apokalypse vollzieht sich in Form von Nationalypsen.
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Es sind meist keine Wunder, worüber die Leute sich wundern.
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Ich kenne nichts Unangenehmeres, als etwas Angenehmes, das ich nicht mag.
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Kannten sie die DDR? Ja, flüchtig!
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Der Klügste gibt nach und nach nach.
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Die Ehe ist die Fortsetzung der Liebe mit anderen Mitteln.
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Man sollte nur hinter einer Sache stehen, wenn man sie überblicken kann.
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Wenn der Laute und der Leise zusammenleben, ist es laut.
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Wie viel einer versteht, hängt davon ab, wie viel er schon verstanden hat.
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Es ist alles schon gesagt. Nur noch nicht von allen.
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Musik kennt keine Grenzen. Vor allem Marschmusik.
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Durch die vielen Zugverspätungen wirkt das Land viel größer.
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Das, was ist, ist nichts im Vergleich zu dem, was gewesen sein wird.
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Die Orden hängen an der Jacke, nicht an der Brust.
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Es gibt eine Art von Gemeinsamkeit, die geht kaputt, wenn man sie nur erwähnt.
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Ein Glück, dass ich nicht alle kenne, die ich nicht mag.
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Könige danken, Philosophen denken ab.
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Der Fahnenappell des dressierten Mannes:
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Entweder du liebst das Denken oder du denkst.
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Aus der Stadt kommen die Intellektuellen,
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In vielen Hirnen ist nichts als Losung.
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Der Körper schwankt zu anderen Zeiten als der Geist.
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Es ist ein aufwendiger Prozess, von einer Dummheit zur nächsten umzulernen.
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Lass mich bitte zu Ende dazwischen reden!
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Der Trabant war eine typische Autosuggestion.
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Am stabilsten sind materielle Ideale.
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Die Erniedrigung eines anderen Menschen ist immer eine Angleichung an das eigene Niveau.
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Wer eine Sache mit Nachdruck vertreten will, braucht die richtigen Vordrucke.
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Frauen unterscheiden sich in ihren Vorteilen, nicht aber in ihren Nachteilen.
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Am stärksten stört sich das eigene Denken.
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Freiheit, Gleichheit, Rücksichtslosigkeit!
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Was nur einer sagt, ist immer falsch, was alle sagen, sowieso nicht richtig.
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Unendlichkeit kann sich leisten, alles nur einmal geschehen zu lassen.
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Wir werden immer mehr und immer einsamer.
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Was bleibt, ist die Veränderung; was sich verändert, bleibt.
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Selbst auf dem Weg zu innerer Ruhe entwickeln einige Hektik.
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Auch im Denken von Konservativen gibt es einen roten Faden.
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Oberflächliches Denken braucht komplizierte Formulierungen, um tiefsinnig zu wirken.
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Realist ist man nicht in jeder Realität.
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Fanatismus ist Mord am Zweifel.
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Die höchste Beförderung beim Militär ist die ins Jenseits.
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Auch bei geistiger Diät sind die Methoden umstritten.
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Antworten enden auf dem Sockel, Fragen am Strick.
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Bleiben ist etwas Vorübergehendes. Aufbrechen ist ewig.
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Wir leben in einer Zeit sich überschlagender Stagnationen.
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Nichts gegen Leute, die Berge versetzen; Hauptsache, sie räumen anschließend wieder auf.
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Je breiter die Straßen, desto kleiner der verbleibende Spielraum.
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In der Mitte glüht die Sprache. An den Rändern bilden sich dicke Bücher.
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Die Friedhofsordnung gilt nur für die Lebenden.
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Ich bin enorm in Form, ich könnte Bäume einpflanzen!
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Der Mensch ist die Dornenkrone der Schöpfung.
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Die ärgerlichste Kritik besteht in der Nennung von Fakten.
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Manager finden auf dem Friedhof ihre erste Ruhe.
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Die Verkabelung weckt pränatale Instinkte.
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Wirklich überzeugende Reden sind zugleich einseitig als auch doppeldeutig.
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Seine wichtigste Kindheitserfahrung: Er wurde überfahren.
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Einige Eselsbrücken wurden bereits für den öffentlichen Verkehr freigegeben.
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Der neue Typ des Realisten: Er schafft sich seine Realitäten selbst.
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Erst beim Ausleuchten der Ecken erkennt man die Gesellschaftsform.
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Nicht nur in den Farben unterscheiden sich die Staatsflaggen, sondern auch in Menge und Qualität des Stoffes.
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Die Menschheit ist eine Ansammlung von Mittelpunkten.
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Manche Theologen bieten das Fernglas verkehrt herum an.
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Der Schwache kennt seine Rechte, der Starke seine Pflichten.
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Volkszählungsverweigerer sind unberechenbar.
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In unserer Sprache entwickeln sich neue grammatikalische Formen: Konspirativ, Abartiv und Perversativ.
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Die Wahrheit hat zwei Pole. Nähern wir uns dem einen, entschwindet der andere.
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Wäre das Leben ewig, würde der Selbstmord zum Regelfall.
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Man wirft sich in Schale, um sich zu schützen.
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Fernsehen entwickelt die Schafsicht des Menschen.
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Aphorismen müssen alt sein. Der Tod des Verfassers beflügelt ihre Verbreitung.
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Der Irrtum verschwindet, die Irrenden bleiben.
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Je weiter der Vormarsch, desto länger der Rückmarsch.
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Schmerz ist die Krönung subjektiver Wahrnehmung.
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Alle wollen das Salz sein und niemand die Suppe.
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Eurasien ist eine Insel westlich von Japan.
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Wir sind unsere einzige Chance.
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Spätestens im Himmel erwartet uns eine multikulturelle Gesellschaft.
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Man isst auch das Kleingedruckte.
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Vor dem Umweltschutz gab´s schon Luftschutz.
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Ein Vergehen gegen die Diktatur konnte ihnen nicht nachgewiesen werden.
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Auch auf Gedankenblitze folgen oft Donnerwetter.
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Vielleicht sind die Stricke, in denen du dich verfangen hast, dein einziger Halt.
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Die Rache des Machos: BräutigamIn.
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Er floh in sich selbst und wurde nicht wieder gesehen.
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Manche Menschen setzen die meiste Energie im Krematorium frei.
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Wir kommen ohne Worte zur Welt. Sie sind ein Geschenk der Anderen.
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Lieber ein Stier ohne Hörner als ein Ochse mit Geweih.
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Je höher er steigt, desto tiefer sinkt er: Der Opportunist.
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Fahnen sind das Einwickelpapier der Politiker.
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Es sind sehr verschiedene Dinge, ob man glaubt, ob man alles glaubt oder ob man alles nur glaubt.
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Vielleicht ist es den Affen gar nicht recht, dass wir mit ihnen verwandt sind.
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Die Müllkippen von heute sind die Bergwerke von morgen.
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Auf Dauer Himmel ist die Hölle.
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Der Mensch ist das einzige nichtpflanzliche Wesen, das Zeitungen ediert.
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Die Philosophie zerschmettert den Geist, die Theologie lähmt ihn.
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Was ist der Kampf mit den Göttern im Vergleich zu diesen ewigen Auseinandersetzungen mit der Nachbarin!
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Leute, die Bäume ausreißen, sind nicht mehr gefragt.
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Die unbefleckte Empfängnis erledigt heute jeder praktische Arzt.
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Was der Geist nicht hergibt, kann auch das Papier nicht leisten.
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Das Leben ist kurz, aber es dauert manchmal ewig, bis der Bus kommt.
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Auch der Stau ist eine Erfahrung.
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Umgangsformen der Politiker: die Komplileidigung und das Beleidiment.
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Schon reden die ersten über negative Auswirkungen des Waldsterbens auf den Autoverkehr.
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Wenn eine Lüge von allgemeinem Nutzen ist, wird sie in den Stand der Wahrheit erhoben.
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Wer früh stirbt, ist länger im Himmel.
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Wer sich über einen rauchenden Arzt wundert, verkennt dessen Motive bei der Berufswahl.
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Die Eroberung des Weltalls durch den Menschen hat angeblich begonnen. Wie lächerlich.
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Soeben haben die ersten Stones-Fans das Rentenalter erreicht.
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Die neuen Bundesländer sehen ziemlich alt aus.
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Der Aphorismus fiel gegen Ende etwas ab.
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